Chelsea-Fans sitzen vor dem Spiel im Pub. (Urheber/Quelle/Verbreiter: John Walton/PA Wire/dpa)

Die Revolution beginnt mit einem Knaller. FC Chelsea gegen den FC Liverpool, an der Seitenlinie mit «Blues»-Coach Thomas Tuchel und «Reds»-Trainer Jürgen Klopp zwei Deutsche: Mehr Spitzenspiel geht kaum zum Jahresbeginn am 2. Januar in der Premier League.

Und doch werden viele Fußballfans in England die Partie noch genauer verfolgen – denn an der Stamford Bridge sind erstmals seit 28 Jahren wieder Stehplätze erlaubt. Außer dem Champions-League-Sieger aus London beteiligen sich auch Stadtrivale Tottenham Hotspur, die Manchester-Clubs United und City sowie Zweitligist Cardiff City an dem Pilotprojekt. Für viele Fans rückt damit ein Stück der lange vermissten Fußball-Romantik zurück in die englischen Stadien.

Auslöser des Umschwungs war ausgerechnet die gescheiterte Super League: An dem Milliardenprojekt wollten sich ursprünglich auch sechs englische Topclubs beteiligen: Chelsea, Liverpool, Tottenham, der FC Arsenal sowie Manchester City und Manchester United. Doch die Pläne, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vorgestellt wurden, stießen auf massiven Widerstand bei den eigenen Fans. Vor allem die amerikanischen Clubbesitzer von Liverpool und Manchester United sahen sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt. Auch deshalb folgte die rasche Kehrtwende. Nun strecken die Clubs ihren Fans die Hand aus.

Klappsitze angebracht

«Forschung und Beweise zeigen, dass das Stehen sicher bewältigt werden kann, und wir freuen uns darauf, dass unsere Anhänger diese verbesserte Erfahrung zum frühestmöglichen Zeitpunkt im neuen Jahr genießen können», sagte Chelsea-Chef Guy Laurence nun. Dafür haben die Clubs Klappsitze angebracht, wie es sie auch in deutschen Stadien gibt. Die Lizenz gilt vorerst bis Saisonende.

Ob die sich rasant ausbreitende Omikron-Variante dem Auftakt der neuen Ära kurzfristig einen Strich durch die Rechnung macht, ist offen. In Schottland und Wales müssen Fußballspiele nach Weihnachten weitgehend ohne Zuschauer stattfinden – doch in England ist noch nicht entschieden, ob, wann und wie verschärft wird.

Der schottische Spitzenclub Celtic Glasgow bietet bereits seit 2016 insgesamt 2900 Stehplätze an. Für England aber ist es ein historischer Einschnitt. Auch wenn vor allem Auswärtsfans das Verbot oft umgehen: In den Stadien der obersten zwei Ligen ist es seit 1994 gesetzlich untersagt, Stehplätze anzubieten. Das Verbot geht im Wesentlichen auf die Hillsborough-Katastrophe in Sheffield 1989 und den Untersuchungsbericht – den «Taylor Report» – zurück. Beim FA-Cup-Halbfinale zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest kam es auf einer überfüllten Tribüne zu einem Massengedränge und Panik, 97 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt.

Hohe Preise

Die Folgen waren enorm. Die Eintrittspreise stiegen unaufhörlich, die Fanszenen veränderten sich. Viele Anhänger mit kleinen oder mittleren Einkommen haben kein Geld, um die hohen Kosten zu stemmen. Das machte sich auch in der einst so hoch gelobten Stimmung in den Stadien bemerkbar. Auch vor der Corona-Pandemie gab es nur wenige Ausnahmen, bei denen eine ähnliche Atmosphäre herrscht wie in der Bundesliga.

Tatsächlich reisen zahlreiche Fans aus England jede Woche nach Deutschland, um bei vergleichsweise günstigen Preisen Fußball im Stehen zu genießen – mit einem Bier in der Hand. Ein Pint mit Blick aufs Spielfeld zu genießen, ist in den obersten fünf englischen Ligen bereits seit 1985 verboten. Regierung und Clubs wollten damit das grassierende Hooligan-Problem in den Griff bekommen.

Aber auch hier könnte es zu einer – wenn auch kleineren – englischen Revolution kommen. Denn eine unabhängige «Fan geführte» Kommission hat ein Pilotprojekt für die vierte und fünfte Liga vorgeschlagen, bei dem Fans ihr Bier wieder an ihrem Platz trinken dürften. Einerseits kritisieren Anhänger die bisherigen Regeln als veraltet. Schließlich kehren viele Fans traditionell bis kurz vor Spielbeginn in nahe gelegene Pubs ein. Auch im Stadioninneren wird oft Alkohol verkauft, er darf nur lediglich nicht am Platz konsumiert wird – die Folge ist oft eine «Druckbetankung» in der Halbzeitpause. Die Lage könnte also entspannt werden, argumentieren Befürworter.

Bier als Einnahmequelle

Hinzu kommen handfeste finanzielle Gründe. Beispiel Dulwich Hamlet: Der Londoner Sechstligist macht fast die Hälfte seiner Einnahmen an Spieltagen mit dem Ausschank alkoholischer Getränke. Das würde im Falle eines Aufstiegs finanzielle Lücken reißen. «Sie haben uns offen gesagt, dass sie es sich aufgrund der Alkoholregeln nicht leisten können, aufzusteigen», sagte die frühere Sportstaatssekretärin Tracey Crouch der Zeitung «The Times». Die von ihr geführte Kommission kam zu dem Schluss, dass ein Ende des Bierverbots am Platz den Clubs der vierten Liga knapp 4,5 Millionen Pfund (5,3 Mio Euro) in die Kassen spülen könnte – ein erheblicher Beitrag zur Nachhaltigkeit.

Doch in Sachen Bier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vor allem die Polizei hat erhebliche Einwände. Die geplante Änderung sei bizarr, sagte Mark Roberts, Polizeichef von Cheshire. Das Gebiet grenzt an die Fußballstädte Manchester und Liverpool. «Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Alkohol und schlechtem Benehmen, nicht nur im Fußball, sondern in der Gesellschaft insgesamt», sagte Roberts.

Mittlerweile häuften sich auch in anderen Sportarten wie Rugby und Cricket, wo der Konsum am Platz gestattet ist, negative Auswirkungen. Und auch das Chaos rund um das EM-Finale im Juni in London, als zahlreiche betrunkene Fans vor dem Wembley-Stadion randalierten und sich Dutzende illegal Zutritt verschafften, spricht aus Sicht vieler Kritiker nicht für eine Änderung des Verbots.

Von Benedikt von Imhoff, dpa

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