Oliver Kahn, ehemaliger Nationaltorhüter, will die Krankheit Depression von ihrem Stigma befreien. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Sven Hoppe/dpa)

Jeder Fußballfan, der sich an das Weltmeisterschafts-Finale 2002 in Japan erinnert, kennt dieses Bild: Oliver Kahn, damals 33 Jahre alt, sitzt nach dem Schlusspfiff minutenlang am Pfosten seines Tores im Stadion von Yokohama. Sein Blick ist leer.

Gerade hat der als «Titan» gerühmte Torwart im Finale gegen Brasilien (0:2) einen sehr irdischen Fehler gemacht. Einen Schuss des Brasilianers Rivaldo in der 67. Minute lässt er nach vorne prallen, Stürmerstar Ronaldo bringt Brasilien in Führung. Es sind noch 23 Minuten zu spielen, aber es ist die Vorentscheidung.

Kahn – fehlbar. Kahn – am Boden zerstört. Ein Mann in tiefe Selbstzweifel gestürzt. «Mir schauten zwei Milliarden Menschen beim Versagen zu», glaubt er. Noch im Tor seien die möglichen Reaktionen der Öffentlichkeit vor seinem inneren Auge vorbeigezogen.

Inzwischen ist Oliver Kahn 53 Jahre alt, Vorstandschef des FC Bayern München, ein mächtiger Mann auf der Fußball-Bühne mit einem Abschluss als Master of Business Administration. Längst nicht mehr der Wüterich, der in Dortmund den gegnerischen Stürmer in den Hals biss, seine Mitspieler am Schlafittchen packte, um sie aufzurütteln. Respektiert, noch mehr gefürchtet, in gegnerischen Stadien mit Affenlauten und Bananen begrüßt.

Kahn war nicht der einzige bayerische Patient

Zuerst in einer TV-Sendung 2017, dann in einem Buch dieses Jahr hat Oliver Kahn einige Male darüber gesprochen, wie seine Verbissenheit und seine Fehler ihn in einen Tunnel trieben. Er nennt es «Burnout» oder «Ausgepowert sein». Gemeint ist die Volkskrankheit Depression. Der «Vul-Kahn» – erloschen. Mitunter kam er zu Hause kaum die Treppe rauf.

Heute will Kahn die Krankheit von ihrem Stigma befreien. Der gebürtige Karlsruher will Betroffene ermutigen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Er tat das seit Ende der 90-er Jahre bei Florian Holsboer. Der renommierte Medizinprofessor leitete bis 2014 das Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Kahn war nicht der einzige bayerische Patient, berichtet Depressionsforscher Holsboer im heute erscheinenden Podcast seiner nach ihm benannten Stiftung, in dem die Journalistin Ina Tenz ihn und Kahn zum Thema Depression und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen befragt. Holsboer erinnert sich an seinen Patienten Sebastian Deisler. «Basti Fantasti» sollte der neue Bayern-Star werden und wurde doch nur depressiv. Der damalige Bayern-Manager Uli Hoeneß sei der Zeit voraus gewesen, er habe ihn angefleht: «Mir ist egal, was die draußen sagen und schreiben. Der Junge soll nur wieder gesund werden!»

So seien die Bayern, die Höchstleistungsgemeinschaft überhaupt im deutschen Fußball, schon früh mit dem Erkennen und Behandeln psychischer Erkrankungen gewesen. Ob Erfolgstrainer Ottmar Hitzfeld oder jüngst Abwehrrecke Benjamin Pavard, die Münchner versuchten, ihre Fußballer zu unterstützen.

Da helfe es, meint Oliver Kahn, dass er selber zu seiner Erkrankung stehe. Die Tore in der Nachspielzeit des Champions-League-Finales 1999 gegen Manchester United, der Patzer im WM-Finale, der Druck über all die Jahre, die Affenlaute, die Bananen, seine eigene Verbissenheit – Kahn erinnert sich: «Ich habe immer ein Symptom gespürt, dieses Ausgebranntsein, es hat alles enorm viel Kraft gekostet.»

Kahn lernte, Dinge anders einzuordnen

Erst mit Hilfe von Holsboer habe er gelernt, besser damit umzugehen. Der sagte nicht wie andere «Reiß dich mal zusammen», sondern hörte zu und entwickelte mit Kahn einen Plan. Arbeit an sich selbst, Veränderung von Perspektiven, das waren die Meilensteine, die aus Kahn erst einen ausgeglicheneren Torhüter und dann auch Menschen machten.

Augenfällig wurde das während der WM 2006, als Kahn auf die Bank musste, aber seinen Vertreter und Rivalen Jens Lehmann im Tor demonstrativ unterstützte. Für den frühen Kahn wäre das undenkbar gewesen.

Kahn lernte, Dinge anders einzuordnen. Er wollte aber nicht auf den Fußball verzichten. «Ich wollte die Dinge, meine Person in meinem Beruf verändern, ich wollte nicht flüchten.» Diese Widerstandskraft im stressigen beruflichen Umfeld mit und professioneller Hilfe zu entwickeln, ist für Kahn auch eine der Empfehlungen aus seinem eigenen Fall.

Damals aber hätte das Sprechen über die Depression möglicherweise das Karriere-Aus bedeutet.«Um Gottes Willen! Das darf auf keinen Fall öffentlich werden.» Das sei die Einstellung vor 15, 20 Jahren gewesen. Nicht nur das sei heute anders. Er glaubt auch, dass die «erniedrigenden» Affenlaute und Bananen heute in Stadien nicht mehr so geduldet würden.

Seine neue Rolle als Bayern-Funktionär helfe ihm beim Persönlichkeitswandel genau wie seine Erfahrungen als Spieler. «Als wir in der Champions League gegen Villarreal ausgeschieden sind, bin ich gelassen geblieben. Das kommt nicht immer gut an.» Letztlich erwarteten die Menschen in seiner neuen Rolle aber von ihm Resilienz, also Widerstandskraft.

Überhaupt habe er lange gebraucht, Abstand vom Fußball zu finden. «Anfangs wurde ich um neun Uhr abends, wenn die Champions League beginnt, total unruhig. Ich habe sogar nachts Waldläufe gemacht, um mich abzulenken.» Das sei nun anders. Und nicht nur das. In dem Podcast jedenfalls begegnet man einem neuen, reflektierten Oliver Kahn jenseits des Klischees. Er ist weniger unterhaltsam als der wahnsinnige Torwart, aber nicht minder interessant.

Sven Gösmann, dpa

Von